Die versäumten Möglichkeiten. Vorabdruck. Über den Schriftsteller Ramón José Sender und seine Erzählung »Requiem für einen spanischen Landmann«. Von Erich Hackl.

Die versäumten Möglichkeiten
Vorabdruck. Über den Schriftsteller Ramón José Sender und seine Erzählung »Requiem für einen spanischen Landmann«
Von Erich Hackl

Ramón José Senders: »Requiem für einen spanischen Landmann«. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Mit einem Nachwort von Erich Hackl. Diogenes-Verlag. Zürich 2018, 128 Seiten, 20 Euro

Am 23. Mai erscheint im Züricher Diogenes-Verlag Ramón José Senders Erzählung »Requiem für einen spanischen Landmann« in der neuen Übersetzung von Thomas Brovot. Lesen Sie im folgenden das vom Schriftsteller Erich Hackl verfasste Nachwort. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. (jW)

Der spanische Schriftsteller Ramón José Sender hat sein Lebtag lang viel und schnell geschrieben, das bezeugen nicht nur Tausende Zeitungsartikel, sondern auch die hundertzwanzig Bücher, die zwischen 1928 und seinem Todesjahr 1982 von ihm erschienen sind. Auf die Niederschrift der Erzählung »Réquiem por un campesino español« (»Requiem für einen spanischen Landmann«) verwendete er nach eigenen Angaben kaum mehr als eine Woche. Sie entstand 1952 in Albuquerque (US-Bundesstaat New Mexiko, jW), wo Sender von 1947 bis 1963 moderne spanische Literatur gelehrt hat, und wurde im Jahr darauf unter dem Titel »Mosén Millán« (»Hochwürden Millán«) in Mexiko veröffentlicht. Erst 1960 erschien die Erzählung unter dem eingängigen neuen Titel. Bis dahin hatte Sender auf die Autorenrechte verzichtet, weil ihm an einer möglichst großen Verbreitung gerade dieses Werkes gelegen war, das auch wirklich sein populärstes und meistgelesenes geworden ist. Dabei durfte es in Spanien erst 1974 veröffentlicht werden, ein Jahr vor dem Tod des Diktators Francisco Franco, als Regimegegner immer noch verfolgt, gefoltert und mit dem Würgeeisen hingerichtet wurden.

»Das wirkliche Volk«
Der von Franco und anderen Generalen im Juli 1936 entfachte Bürgerkrieg und die schon lange davor praktizierte Konspiration von Oligarchie, Klerus und Militär gegen die Reformpolitik der Zweiten Republik bilden den Hintergrund des tragischen Geschehens in einem aragonesischen Dorf, das Sender knapp, präzise und scheinbar ohne große Gefühle zur Sprache bringt. Die Geschichte vom politischen Erwachen des Bauernjungen Paco el del Molino, der als Erwachsener durch Verschulden des Pfarrers seinen faschistischen Mördern in die Hände fällt, wird ungemein subtil, lebendig und spannungsreich geschildert, mittels Rückblenden aus der erzählten Gegenwart, jener halben oder dreiviertel Stunde, die der Geistliche wartend und betend in der Sakristei zubringt, ehe er vor niemandem sonst als den drei Dorfhonoratioren – und Mordanstiftern – Pacos Seelenmesse lesen wird.

Obwohl er weitgehend die Perspektive des Pfarrers einnimmt, fördert der Erzähler eine Wahrheit zutage, die mit den doktrinären Auffassungen und der emotionalen Verkrümmung der Priesterschaft unvereinbar ist. Hingegen gibt er zu verstehen, dass in Haltung, Denkweise und Ausdruckskraft der Klein- und landlosen Bauern – die Anfang der dreißiger Jahre fast vierzig Prozent der aktiven Bevölkerung ausmachten – ein Beharrungs- und Widerstandsvermögen steckt, das sich durch brutale Gewalt nicht ausmerzen lässt. In dieser leisen, fast verhohlen vorgebrachten Botschaft liegt die gesellschaftliche Brisanz der Erzählung. Im übrigen ist dem Literaturwissenschaftler Germán Gullón zuzustimmen, der das »Requiem für einen spanischen Landmann« als eine Erzählung über die versäumten Gelegenheiten bezeichnet hat – darüber, »was möglich gewesen wäre, aber nie geschehen ist: die Verteidigung des Dorfjungen durch Mosén Millán, der Schutz der Opfer des Faschismus durch die katholische Kirche«.

Es gibt mindestens zwei lebensgeschichtliche Verbindungen zwischen dem Autor und seiner Erzählung. Zum einen den Schauplatz: Sender ist in Alcolea de Cinca aufgewachsen, einem Dorf im Südosten der Provinz Huesca, und er hat den Ort der Handlung dort oder ganz in der Nähe angesiedelt, jedenfalls im Grenzstreifen zu Lérida, weswegen die Bewohner häufig ein katalanisches Wort in ihr aragonesisches Spanisch einflechten. Zum andern ist der Autor als Junge selbst Ministrant gewesen und hat als solcher, wie Paco el del Molino, den Dorfpfarrer zu einem im Sterben liegenden Höhlenbewohner begleiten müssen. »Wäre der Alte damals nicht in der Höhle und in so schlimmen Verhältnissen gestorben, dann wäre ich auch nicht mit dem Priester hingegangen, um ihm die Letzte Ölung zu spenden. Womöglich hätte sich Pacos Dasein dann auch nicht als Symbol für die Lebensumstände der spanischen Bauern geeignet, und das ›Requiem für einen spanischen Landmann‹ wäre nicht geschrieben worden. Denn der Bürgerkrieg hätte wahrscheinlich gar nicht stattgefunden.«

Es ist darüber hinaus keine Äußerung Senders bekannt, derzufolge die frühe Einsicht in das Elend der Landarbeiter sein soziales Gewissen geweckt hat. Es wird, wie fast immer, ein Bündel von Erfahrungen gewesen sein, die ihn geprägt und beeinflusst haben. Jedenfalls wissen wir, dass Sender schon 1915, mit vierzehn Jahren, in einer Schülerzeitung den russischen Anarchisten Pjotr Kropotkin würdigte, was ihn teuer zu stehen kam, da man ihn deshalb als vermeintlichen Rädelsführer eines Krawalls von der Schule verwies, und dass er mit achtzehn das Prosagedicht »Für Rosa Luxemburg am ersten Jahrestag ihrer Aufopferung« veröffentlichte. Trotzdem sollte er Jahrzehnte später behaupten, dass ihn erst Spaniens Kolonialkrieg in Marokko, an dem er als Einjährig-Freiwilliger 1923 teilgenommen hatte, an die Seite der radikalen Linken geführt habe: weil er dadurch das spanische Volk kennengelernt habe, »das wirkliche Volk, Arbeiter und Bauern«.

Dieser Feldzug gegen die Rifkabylen, der 1926 mit deren Unterwerfung geendet hatte, war mit einer Grausamkeit geführt worden, die für seine Generation von Spaniern ebenso bestimmend wurde, wie es die Greuel des Ersten Weltkriegs für die Soldaten der darin verwickelten Staaten gewesen waren. Der Roman »Imán« aus dem Jahr 1930, mit dem Sender erstmals auch als Schriftsteller und nicht nur als Journalist Aufsehen erregte, steht deshalb den antimilitaristischen, herrschaftskritischen Werken Ernst Glaesers, Ludwig Renns und Erich Maria Remarques nahe, die zur selben Zeit in spanischer Übersetzung erschienen waren. In der Wahl des Protagonisten, eines aragonesischen Kleinbauern und Dorfschmiedes, der hier wie da – in Aragón und in Marokko – das Unglück wie ein Magnet anzuziehen scheint, in den kurzen, nüchternen Sätzen, in denen er dem Chronisten von den erlebten Greueln berichtet, und in der dinghaften Sprache nimmt der Roman manche Besonderheiten des »Requiem« vorweg.

Kein typischer Anarchist
Nach der Buchveröffentlichung, die angeblich sogar zum Sturz der Regierung von General Dámaso Berenguer beigetragen hatte, schloss sich Sender einer anarchistischen Fraktion an und schrieb täglich eine Kolumne für Solidaridad Obrera, das Organ der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT. Bekannter noch wurde er durch seine Reportagen in der Zeitung La Libertad, in denen er Fällen von Klassenjustiz, Polizeigewalt und staatlicher Repression nachging, u. a. dem sogenannten Verbrechen von Cuenca, bei dem zwei Campesinos für einen Mord verurteilt wurden, der nie stattgefunden hatte, dem Massaker an Anar­chisten in Casas Viejas, einem Dorf der Provinz Cádiz, und den brutalen Vergeltungsmaßnahmen nach der Niederschlagung der Revolution von Asturien 1934.

Neben seiner journalistischen Tätigkeit veröffentlichte er weiterhin Romane, Aufsätze und Reiseberichte, darunter solche, die seine allmähliche Abwendung vom Anarchismus erkennen lassen. Sender war von vornherein kein typischer Anarchist gewesen, da er Kritik an der Sowjetrepublik von seiten seiner Gefährten nie geduldet, hingegen sowohl den bewaffneten Aufstand als Mittel der Machterringung als auch die Bildung eines straffen Führungsgremiums und die Diktatur des Proletariats gebilligt hatte. Was ihn an den Anarchisten beeindruckt habe, sagte er, seien ihr Mut, ihr Kampfgeist, ihre Selbstlosigkeit gewesen. Der Roman »Siete domingos rojos« (»Sieben rote Sonntage«), den er 1932 veröffentlichte, war seinen Worten zufolge ein anarchistisches Buch gegen den Anarchismus in seiner impulsiven, kindlichen Spielart.

Laut Selbstdarstellung wurde Sender – wie die meisten begabten Schriftsteller seiner Generation: Rafael Alberti, María Teresa León, Luis Cernuda, Manuel Altolaguirre und ein paar Dutzend mehr – »ein feuriger und lärmender Sympathisant« der Kommunistischen Partei, die erst im Verlauf des Bürgerkriegs zu einer mächtigen Organisation erstarkte: wegen ihrer Effizienz und Disziplin beim Aufbau der Volksarmee und in der öffentlichen Verwaltung; wegen ihrer gemäßigten Einstellung zur Eigentumsfrage, die von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wurde; wegen der sowjetischen Waffenhilfe, durch die sie an Renommee gewann; wegen der Niederschlagung der linken, volksfrontfeindlichen Opposition.

Hatte Sender seine Zeit schon bisher zwischen literarischer und politischer Arbeit aufgeteilt, so war er nun, zur Verteidigung der Republik, auch noch militärisch im Einsatz. Zuerst als Freiwilliger in einer Milizkolonne, dann als Bataillonskommandant im berühmten Fünften Regiment kämpfte er an mehreren Frontabschnitten vor Madrid, bis er nach einem schlecht koordinierten Angriff auf eine feindliche Stellung im Herbst 1936 seinen Posten verließ. Die Umstände dieses eigenmächtigen Verhaltens sind bis heute umstritten. Unklar ist auch, ob Sender anschließend noch mit militärischen Aufgaben betraut wurde. Jedenfalls scheint die Affäre sein Vertrauen in die Kommunistische Partei getrübt zu haben. Zwei, höchstens drei Jahre später war es überhaupt weg. Seinem Prestige tat das keinen Abbruch. 1937 sprach er beim Zweiten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur, 1938 unternahm er im Auftrag der Regierung Ne­grín (Juan Negrín, spanischer Ministerpräsident 1937–1939, jW) eine Redereise durch die USA und gab, ebenfalls im Auftrag der republikanischen Regierung, in Paris die Wochenzeitung Voz de Madrid heraus.

Mit »Contraataque« (»Gegenangriff«) veröffentlichte Sender mitten im Krieg außerdem einen umfangreichen Roman, der trotz seiner Propagandafunktion – er erschien zuerst im Ausland, auf englisch und französisch – die inneren Konflikte der Republik nicht unterschlägt und durch ungewöhnliche Detailschilderungen sowie einen lebensbejahenden, zukunftsfrohen Ton besticht. Der Schlusssatz lautet: »Bald werde ich euch erzählen können, wie der Sieg gewesen ist, auch wenn er für mich, im Rahmen meiner persönlichen Freuden oder Schmerzen, kein Sieg mehr sein wird, sondern eine Entschädigung.« Entschädigung wofür? Für zwei Verbrechen, die er im letzten Abschnitt des Romans zur Sprache bringt. Auf das eine, die Ermordung seines Bruders Manuel, ist er auch später noch zurückgekommen, etwa in der Zueignung seines Romans »El rey y la reina« (»Der König und die Königin«) aus dem Jahr 1948: »Die Faschisten bemächtigten sich der Stadt Huesca, wo mein Bruder Bürgermeister war. Zwei Polizisten kamen in sein Haus und sagten zu ihm: ›Wir haben Befehl, Sie zu verhaften. Gehen Sie fort, wir sagen dann, wir hätten Sie nicht gefunden.‹ Mein Bruder antwortete: ›Ich habe keinen Grund, fortzugehen. Niemand kann mir etwas vorwerfen. Verhaften Sie mich doch.‹ (…) Er glaubte, dass es anständiger wäre zu bleiben und mit dem ruhigen Lächeln eines Ehrenmannes der Gefahr die Stirn zu bieten. Eine Woche danach wurde er ohne Prozess und ohne konkrete Anklage erschossen.«

Erschossen an der Friedhofsmauer
Über das zweite Verbrechen hat Sender hingegen eine Art Erinnerungsverbot ausgesprochen. Es traf seine Frau Amparo Barayón, mit der er im Sommer 1936 in San Rafael, einer Ortschaft im Guadarrama-Gebirge, Urlaub gemacht hatte. Dort wurden sie von der Erhebung der Militärs überrascht. Während er sich in den Wirren der ersten Stunden nach Madrid durchschlug, folgte Amparo seinem Rat, mit ihren Kindern – dem kaum zweijährigen Ramón, der drei Monate alten Andrea – Zuflucht in ihrem Elternhaus in Zamora zu nehmen. Dort aber wurde sie vom Mann ihrer Stiefschwester an die neuen Machthaber verraten, verhaftet, in einer als Verlies und Folterkammer verwendeten Kapelle gefangengehalten und am 11. Oktober 1936 an der Friedhofsmauer erschossen. Schon zuvor waren zwei ihrer Brüder wegen ihrer republikanischen Gesinnung ermordet worden.

Vor ihrer Hinrichtung hatte Amparo den Priester gebeten, ihr die Absolution zu erteilen. Aber er weigerte sich, ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen, weil sie nicht kirchlich getraut worden war, sondern auf dem Standesamt geheiratet hatte. Wer weiß, wie sich Mosén Millán in diesem Fall verhalten hätte.

Sender erfuhr vom Tod seiner Frau im Dezember, in Frankreich, wo ihm Ramón und Andrea von Rotkreuzhelfern übergeben wurden. Er hatte keinen Versuch unternommen, Amparo durch einen Geiselaustausch zu retten. Noch im selben Monat heiratete er Elixabete Altube, eine junge Flüchtlingsfrau aus Guernica, die im Jahr darauf einen Sohn zur Welt brachte, Emmanuel. Sender verließ sie und die drei Kinder, um in Paris, wie bereits erwähnt, die Zeitung Voz de Madrid zu redigieren. Erst im Frühjahr 1939, als die Niederlage der Republik schon feststand, nahm er Ramón und Andrea zu sich. Um Emmanuel und seine zweite Frau kümmerte er sich nicht weiter, und hier ist nicht der Ort, ihr späteres Schicksal auszubreiten. Mit einem amerikanischen Visum ausgestattet, ging Sender mit den beiden Kindern an Bord der U. S. Manhattan, die Anfang April in New York anlegte. Dort fand sich die Schriftstellerin Julia Davis bereit, Ramón und Andrea an Kindes Statt aufzunehmen. Sie war ihnen nach Auskunft Ramóns eine liebevolle, zärtliche Ziehmutter. Den leiblichen Vater sahen sie nur selten, und wenn sie ihn sahen, weigerte er sich, ihnen von Amparo zu erzählen. »Lass es bitte auf sich beruhen«, sagte er zu seiner Tochter, die unter dem Namen Benedicta Nonne der Episkopalkirche geworden ist. »Es tut so weh.«

Erst nach Senders jähem Herztod Mitte Jänner 1982 konnte sich Ramón daranmachen, den Spuren der von seinem Vater verschwiegenen, unterschlagenen Frau zu folgen. Was er dabei herausfand, lässt sich in seinem Buch »A Death in Zamora« (1989) nachlesen, das unter dem gleichlautenden Titel, »Ein Tod in Zamora«, auch auf deutsch erschienen ist. Es ist bei aller Bitterkeit keine Abrechnung mit dem zeitlebens abweisenden Vater, der seinen Kindern mehr durch die amerikanischen Ausgaben seiner Romane als durch persönliche Begegnungen nahegekommen war. Es fällt schwer, Senders Behauptung ernst zu nehmen, er habe sie deshalb in fremde Obhut gegeben, weil die Stalinisten hinter ihm her gewesen seien. Hätte er sich tatsächlich in Lebensgefahr befunden, wäre er wohl nicht, bald nach der Ankunft in New York, nach Mexiko weitergereist, wo der kommunistische Einfluss unter den Exilspaniern beträchtlich war und Stalins verbrecherische Energie, wenn man an David Alfaro Siqueiros’ gescheiterten und Ramón Mercaders geglückten Anschlag auf Leo Trotzki denkt, sich relativ ungehindert entfalten konnte.

Ein Stipendium der Guggenheim-Gedächtnis-Stiftung hatte es Sender 1941 ermöglicht, von Mexiko in die Vereinigten Staaten zu wechseln. Arizona, New Mexico, Kalifornien: Er lebte abseits der literarischen Zentren, aber immer in Gegenden, in denen ihm dank der hispanoamerikanischen Präsenz die Verbindung zur Muttersprache nicht verlorenging. Seine literarische Produktivität steigerte sich sogar, nun, da er sich aus Vorsicht – er fühlte sich jahrelang vom FBI beschattet – oder aus Überzeugung nicht mehr mit revolutionären Parteien oder Bewegungen identifizierte. (Die Umkehrung seiner früheren Ideale war erreicht, als er während des Vietnamkriegs Partei für die US-amerikanische Napalmbombenpolitik ergriff.) Im Prolog zu seinem Roman »Los cinco libros de Ariadna« (»Die fünf Bücher der Ariadne«), der vier Jahre nach dem »Requiem« erschien und als Abrechnung mit den »Moskowitern« gedacht war, bekräftigte er, »dass der Dichter und der Politiker zwei einander entgegengesetzten, unversöhnlichen Arten angehören und dass die Eigenschaften des einen und die des anderen einander ausschließen«. Aber fünf Zeilen weiter unten steht, dass ein Schriftsteller sozialen Gegebenheiten nicht ausweichen könne. »Bleibt man in unseren Zeiten sozialen Problemen gegenüber ungerührt, muss man ein Spitzbube oder ein Schafskopf sein.« Das »Requiem für einen spanischen Landmann« erbringt den Nachweis, dass Sender zumindest als Schriftsteller weder das eine noch das andere gewesen ist.

Förderer und Übersetzer
Es gehört sich, bei dieser Gelegenheit an zwei Menschen zu erinnern, die dazu beigetragen haben, dass Senders Werk in den deutschsprachigen Ländern wenigstens eine flüchtige Spur hinterlassen hat. Zum einen Georg Hellmuth Neuendorff, der heutzutage, wenn überhaupt, als Reformpädagoge und als Sittlichkeitsverbrecher – wofür er 1924 zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt wurde – bekannt ist. Neuendorff hatte, wohl aus eigenem Antrieb, Senders ersten Roman übersetzt, der 1931, ein Jahr nach der Originalausgabe, unter dem fast gleichlautenden Titel »Imán. Kampf um Marokko« im Berliner Verlag Der Bücherkreis erschienen ist – als erste fremdsprachige Übersetzung überhaupt. Von daher rührte Senders Dankbarkeit gegenüber Neuendorff, den er 1933 in Paris kennengelernt und dann aufgrund der politischen Umstände aus den Augen verloren hatte. Das jedenfalls steht in einer seiner »Relatos fronterizos« (»Grenzgeschichten«) aus dem Jahr 1970. Sender schreibt darin auch, dass sein Übersetzer bei einem alliierten Luftangriff 1943 in Dresden umgekommen sei, und unterstützt diese Behauptung mit Zitaten aus allerlei Briefen. Aber die Belege erweisen sich als fingiert, denn Neuendorff hatte den Krieg überlebt und in der Sowjetischen Besatzungszone gemeinsam mit der Schriftstellerin Maria Schwauß eine Lateinamerika-Reihe begründet, die nach fünf Titeln aufgrund ideologisch verbohrter und literarisch ahnungsloser Gutachten eingestellt wurde. Er starb jedenfalls erst im März 1949, plötzlich und ohne dass dabei Gewalt angewendet wurde, und man fragt sich, welchen ästhetischen Gewinn Sender darin gesehen hat, ihm ein anderes Todesjahr und andere Todesumstände anzudichten.

Über den Kritiker Walter Boehlich hat Sender meines Wissens nie geschrieben. Vielleicht hat er ihn auch nie getroffen. Ein engerer Kontakt bestand, das erweist sich an den vierzig Büchern, darunter sieben signierte, die Boehlich von ihm in seiner Bibliothek verwahrte. Möglich, dass er noch in Bonn als Assistent des Romanisten Ernst Robert Curtius auf Senders Werk aufmerksam geworden war. Wenn nicht dort, dann in Madrid, wo er Mitte der fünfziger Jahre an der Universidad Complutense Deutsch unterrichtet und den österreichischen Schriftsteller Wilhelm Muster kennengelernt hatte, den er später, als Cheflektor des Suhrkamp-Verlags, mit zwei Romanübersetzungen beauftragte. Einen dritten Roman übersetzte Maria von Wevell, die als Bibliothekarin am Ibero-Amerikanischen Institut in Hamburg arbeitete, und die restlichen beiden Bücher – eines davon war das »Requiem« – wurden von Boehlich selbst ins Deutsche übertragen. Fünf Buchveröffentlichungen in sechs Jahren, von 1961 bis 1966. Dann riss der Faden, auch wegen Boehlichs Bruch mit dem Verleger; 1971 erschien noch – aber nicht mehr bei Suhrkamp – Senders Prosatrilogie über die Heilige Teresa von Ávila in der Übersetzung von Doris Deinhard und 1991 der schon genannte Roman »Sieben rote Sonntage«, den Peter-Paul Zahl auf Grundlage der englischen Übersetzung ins Deutsche gebracht hat. Schluss, aus, Ende?

In »Dichten und Trachten«, der Hauszeitschrift des Suhrkamp Verlags, schrieb Walter Boehlich 1966 ziemlich betrübt, ratlos und verärgert, dass die spanische Literatur bei deutschen Lesern auf »unverhältnismäßig wenig Gegenliebe« stoße. »Ramón José Senders Werke jedenfalls scheinen sie nicht lesen zu mögen. Ist ihnen sein Name nicht groß genug? Aber warum ist er dann groß außerhalb Deutschlands? Hat ihnen niemand von Sender gesprochen? Erscheinen unsere Zeitungen und Zeitschriften umsonst? Schreiben unsere Kritiker umsonst? Langweilt er sie? Ja, ist der Verschollene etwa langweilig? Oder das Requiem für einen spanischen Landmann? Sind denn seine Romane langweilig? Der König und die Königin? Die Brautnacht des schwarzen Trinidad? Langweilig? Minderwertig? Esoterisch? Tut der Verlag nichts für seinen Autor? An was eigentlich liegt es? Ist, was da in spanischem Gewande geschildert wird, uns so vollkommen fremd, keine, auch nicht die fernste Erinnerung an eigene Geschichte weckend? Oder mögen wir es gerade deswegen nicht, weil es Erinnerungen weckt, weil wir mit der eigenen Vergangenheit schon genug zu tun haben? Ich weiß es nicht.«

Kein Publikum?
»Hat die spanische Literatur kein Publikum?« Mit dieser Frage war Boehlichs Aufsatz überschrieben. Ein halbes Jahrhundert später stellen wir sie aufs neue. Hat Ramón José Sender keines? Die Nagelprobe könnte diese Erzählung sein, in Thomas Brovots neuer, schwungvoller Übersetzung, die die Atmosphäre des Originals so gut trifft. Ich wünsche ihr enorm viele Leser, Leserinnen, junge, alte und solche, die so dazwischen sind. Nicht nur, um Walter Boehlich, der sich für das »Requiem für einen spanischen Landmann« ins Zeug gelegt hat, postum Genugtuung zu verschaffen, also aus Gründen der literarischen Gerechtigkeit, sondern vor allem der Sache willen, um die es in Senders Erzählung geht und die wir nicht vergessen dürfen.

Quelle: junge Welt, Ausgabe vom 19.05.2018, Seite 12 / Thema

Redaktion KFSR

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