Massengräber auf der Urlaubsinsel – Mit Verspätung erforscht Mallorca seine faschistische Vergangenheit. Von Hartmut Botsmann.

Titelbild: Der Gemeindevorstand von Porreres am 1. Mai 1935; alle Mitglieder wurden 1936/37 von der faschistischen Falange ermordet. Foto: Archiv/Bartomeu Garí

Massengräber auf der Urlaubsinsel

Mit Verspätung erforscht Mallorca seine faschistische Vergangenheit. Von Hartmut Botsmann

Kaum jemand kommt im weißen Sand von Sa Coma oder im Idyll der Altstadt Palmas auf die Idee, an Bürgerkrieg zu denken. Selbst diejenigen, die es schaffen, jenseits von Massentourismus und den üblichen Stereotypen einen Einheimischen auf dieses Thema anzusprechen, stoßen immer wieder auf dieselbe Formel: Im Krieg 1936 bis 1939 hätten beide Seiten gelitten und Gräueltaten verübt. Und im Übrigen seien Kirchen angezündet worden, also musste gehandelt werden. Von Vergangenheitsbewältigung kann auf der Insel noch keine Rede sein. Kein Wunder, wurde diese 40 Jahre lang vom Franco-Regime verboten und weitere 40 Jahre von den gewählten Regierungen Spaniens weitgehend vermieden.

Manel Santana (Jg. 1972), Lehrer von Beruf und promovierter Historiker, ist seit Mai 2017 Generaldirektor für »Demokratische Geschichtsbewältigung« im Landeskulturministerium der Balearen und damit verantwortlich für die Anfang Juli begonnene Öffnung von elf Massengräbern: Alaró, Santa Maria, Llucmajor, Calvià und Porreres sind die ersten Stationen. Für die Exhumierungen wurde eine technische Kommission gebildet, mit den Ausgrabungsarbeiten die baskische Firma Aranzadi beauftragt.

Seine Hauptaufgabe sieht Santana in der »dignificació«, der Würdigung und Rehabilitierung der Opfer des Franco-Regimes. »Die geöffneten Massengräber sollen zur Kenntnis der Geschichte der Demokratie und der Repression beitragen, wir müssen sie zu Orten des historischen Gedenkens machen.« Neben den Exhumierungs-Programmen werden Orte mittels Informationstafeln sichtbar gemacht, die relevant sind für das Geschehen des Jahres 1936: die Bildung der Volksfrontrepublik nach dem grandiosen Wahlsieg der spanischen Frente Popular sowie Bürgerkrieg und Repression unter der Franco-Diktatur nach dem Putsch der Generäle vom 18. Juli des Jahres. Und in Zusammenarbeit mit der Schulbehörde werden Aktivitäten zur Entwicklung und Erhaltung demokratischer Strukturen entwickelt. Schwierigkeiten bereitet Santana die Koordination der öffentlichen Maßnahmen mit den Initiativen der Zivilbevölkerung, insbesondere mit denen der Associació Memòria de Mallorca, die bereits vor 18 Jahren mit ihren Nachforschungen begonnen hat. »Heute muss sie ihre Rolle mit den Institutionen teilen«, sagt Santana. »Es ist die Regierung, die für die Rehabilitierung der Opfer sorgen muss, und diese Verantwortung wollen wir übernehmen.«

Maria Antònia Oliver Paris (Jg. 1957), Enkelin des ermordeten Arbeiterführers Andreu Paris Martorell und Präsidentin der Associació Memòria de Mallorca, sieht das etwas anders. Jüngst hat sie die Kommission verlassen, weil sie ihrer Meinung nach zu stark von den Behörden dominiert wird. Sie möchte begleitet und unterstützt, nicht aber bevormundet werden. »Die Behörden können vieles, aber ihnen fehlt unsere Erfahrung mit der Umsetzung der Exhumierungen. 80 Jahre sind verstrichen, ohne dass sie auch nur einen Finger gerührt hätten!«

Letztendlich aber geht es nicht nur um Mitbestimmung: Eine halbe Million Euro steht Santana für sein Jahresprogramm zur Verfügung. »Relativ wenig«, meint er, »wenn wir bedenken, dass wir erst 40 Jahre nach Beendigung des Faschismus beginnen, über finanzielle Mittel zu verfügen.«

Bartomeu Garí (Jg. 1965) koordinierte 2014 die erste Exhumierung auf den Balearen. Der promovierte Historiker und Mitbegründer der Associació Memòria de Mallorca lieferte zusammen mit weiteren Forschern die kartographischen, kriminalistischen und historischen Grundlagen für die Ortung der insgesamt 50 Massengräber Mallorcas. In Sant Joan kamen drei Opfer zum Vorschein: Arbeiterführer des Dorfes Maria de la Salut, die im Oktober 1936 am Straßenrand erschossen und dort liegen gelassen worden waren. Diese Taktik, von den Historikern »passejos« (Spazierfahrten) genannt, hatte vor allem zum Ziel, die Bevölkerung vom ersten Moment des Putsches an einzuschüchtern. »Exhumierungen und die Würdigung der Opfer sind fester Bestandteil unserer Vergangenheitsbewältigung«, bestätigt Garí. »Zum ersten Mal gelingt es uns, die Negationisten mit handfesten Beweisen zu widerlegen.«

Das Massengrab auf dem Friedhof in Porreres ist von ganz anderer Größenordnung: 50 Opfer sind hier 2016 in einer ersten Phase freigelegt worden, von denen 15 bereits identifiziert sind: Bürgermeister, Gewerkschaftsführer und weitere Persönlichkeiten der Zweiten Republik. Sie wurden Anfang 1937 von der Falange, der faschistischen Miliz, aus dem Gefängnis Can Mir in Palma geholt und sofort hinter dem Friedhof erschossen. »Tretes« (Entlassungen) nannte sich diese Art des organisierten Massenmordes. Für die zweite Phase in Porreres müssen moderne Grabstätten abgetragen werden, um an die restlichen Opfer heranzukommen. Allein im bisher sondierten Bereich werden mindestens 50 weitere vermutet.

»Der wirkliche Sieg des Franco-Regimes besteht in der Stille. Eine von den herrschenden Klassen vorgeschriebene Stille, basierend auf Angst und Ignoranz«, konstatiert der Historiker Antoni Tugores (Jg. 1948) in seinem Buch »La guerra a casa« (Der Krieg zu Hause), in dem er detailliert die 20 Tage andauernden bewaffneten Auseinandersetzungen im Sommer 1936 und die ersten Jahre der faschistischen Repression beschreibt.

Die Öffnung der Massengräber habe bedeutende soziale Auswirkungen. »Wir müssen die Menschen auch auf den Fund vorbereiten«, sagt er in Bezug auf die Probleme auf den Friedhöfen von Manacor. Dort wurden Hunderte von Republikanern hingerichtet. Viele der Opfer wurden an Ort und Stelle mit Benzin übergossen und verbrannt. »Es geht uns nicht darum, verbrannte Knochen freizulegen. Natürlich sind Exhumierungen und die Überführung der sterblichen Überreste legitim, vor allem für die Angehörigen, die dies beantragen.« Das Ziel aber sei vielmehr, an die Orte der Repression und die davon betroffenen Personen zu erinnern. Auf der Wunschliste der Memòria de Mallorca stehen auch die Öffnung der Militärarchive und die Rehabilitierung der von den Kriegsgerichten ab 1941 verurteilten Republikaner. Dafür ist ein Zensus aller Opfer notwendig, der derzeit noch an »Staatsgeheimnissen« scheitert.

Santana, Garí und Tugores sind sich einig: Das von den Faschisten entstellte Bild der Volksfrontrepublik muss korrigiert werden. Trotz Weltwirtschaftskrise erreichte sie wichtige soziale und ökonomische Fortschritte. Laut Tugores wurden aber strategische Fehler begangen und an zu vielen Fronten gleichzeitig gekämpft. »Die Opfer zu würdigen, bedeutet zu erklären, wer sie waren, was sie für das Volk getan haben und dass sie aus diesem Grund ermordet wurden«, sagt er. »Ganz oben auf der Liste der Falange standen jene, die sich um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung bemühten«, erläutert Santana. »Republik – das bedeutete gewerkschaftliche und politische Freiheit, Entwicklungsmechanismen und soziales Potenzial.« Und Garí ergänzt: »Die Repression richtete sich insbesondere gegen die Mitglieder der linksgerichteten Volksfront, die mit ihrer Agrar- und Bildungsreform und der Modernisierung der Gesellschaft Militär, Großgrundbesitzer und Kirche gegen sich aufbrachten.«

Laut Santana schlug die Repression auf Mallorca mit besonderer Härte zu. Auf einem relativ begrenzten Gebiet starben über 2000 Menschen und viele andere wurden inhaftiert, zu jahrzehntelanger Zwangsarbeit verurteilt oder mit Berufsverbot bestraft. Die Lage machte es den Repressoren leicht: Auf einer Insel kennt jeder jeden, es gibt wenige Geheimnisse. »Den Menschenrechtsverletzungen waren keine Grenzen gesetzt«, sagt Garí.

Laut Santana ist Spanien bisher noch nicht seiner Pflicht nachgekommen, eine adäquate politische Antwort auf seine jüngste traumatische Vergangenheit zu finden. Garí wird konkreter: Der Übergang zur Demokratie, die »transició«, könne kaum als Bruch mit der faschistischen Diktatur bezeichnet werden. »Der ranzige, ultrarechte zentralspanische Nationalismus ist ein klares Anzeichen dafür.« Niemals hat es nach seiner Ansicht auch nur einen Versuch gegeben, sich bei den Opfern zu entschuldigen. »Die Öffnung der Massengräber liefert klare Beweise dafür, dass Verbrechen gegen die Menschheit verübt worden sind. Das hat nichts mit Krieg zu tun. Hier wurden zur legitimen Regierung stehende Personen ohne jegliches Recht auf Justiz ermordet«, resümiert Maria Antònia Oliver.

Wahrheit, Justiz und Wiedergutmachung ist die akzeptierte Formel der mallorquinischen Vergangenheitsbewältigung. Santana ist optimistisch: »Ein Konsens ist möglich. Wiedergutmachung hat nichts mit Anschuldigung zu tun, sondern es handelt sich um einen Reflexionsprozess, der es allen möglich macht, sich eine Meinung zu bilden. Das Aufdecken und Akzeptieren der Wahrheit ist die einzige Garantie dafür, dass sich eine solche Situation nicht wiederholt.«

»Obrir per poder tancar la història« (Öffnen, um mit der Geschichte abschließen zu können) nannte Garí daher auch sein Buch zur Exhumierung des Grabes in Sant Joan.

Unser Autor, Historiker und Kulturaktivist, lebt und arbeitet in Portocolom auf Mallorca.

Aus: „neues deutschland“(nd) | Berlin-Ausgabe vom Samstag, 21. Juli 2018, Seite 27.

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Redaktion KFSR

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