Deckname »Carmen« Sie war eine der mächtigsten Frauen im Apparat der Kommunistischen Internationale während des Spanischen Krieges – eine Spurensuche. Von Werner Abel

Titelfoto: Die Rolle der Frauen im Spanischen Krieg wurde lange Zeit kaum beachtet oder auf ­die Betreuung von Verwundeten ­reduziert. Dabei gab es neben Krankenschwestern auch Milizionärinnen, ­Berichterstatterinnen, Dolmetscherinnen, Fahrerinnen, ­Ärztinnen und Fotografinnen. Im politischen ­Apparat der Kommunisten waren Frauen trotzdem selten. Ruth Kahn war eine Ausnahme

Deckname »Carmen«

Sie war eine der mächtigsten Frauen im Apparat der Kommunistischen Internationale während des Spanischen Krieges – eine Spurensuche

Von Werner Abel
junge Welt, Aus: Ausgabe vom 18.08.2017, Seite 12 / Thema
 
In keiner Erinnerung an den Krieg, der zwischen 1936 und 1939 über das Schicksal der Spanischen Republik entschied, taucht ihr Name auf. Nicht eine der zahlreichen Autobiographien, die ehemalige Kämpfer der Internationalen Brigaden später verfassten, nennt sie, und auch in wissenschaftlichen Arbeiten über den Spanischen Krieg ist sie nicht zu finden.Die äußerst wirkungsmächtige »Kommission für ausländische Kader« beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Spaniens, in der sie längere Zeit als »Responsable«, also als »Verantwortliche« aktiv war, ist bis heute kaum auf das Interesse der Historiker gestoßen. Dabei beschäftigte sich diese Frau im Namen dieser Kommission nicht nur mit einzelnen Personen, sondern gab auch Empfehlungen, wie mit ganzen Gruppen umgegangen werden sollte. Ein riesiger Aktenbestand dieser Kommission ist im Parteiarchiv der KPdSU erhalten geblieben. Gemeinsam mit den schriftlichen Unterlagen der Internationalen Brigaden waren die insgesamt 1.618 Akten Ende 1938, Anfang 1939 nach Moskau gebracht und dort eingelagert worden.

Es war ein kluger Schritt der KP Spaniens, diese Akten, die sich auf die internationalen Freiwilligen bezogen, die in Spanien gegen die Franco-Faschisten gekämpft hatten, vor den Franquisten in Sicherheit zu bringen. Wären sie diesen und damit auch den deutschen und italienischen Faschisten in die Hände gefallen, die Konsequenzen für die Spanienkämpfer, die sich nach der Niederlage der Republik vor ihnen in Sicherheit hatten bringen können, wären vermutlich verheerend gewesen, schlimmer als sie es ohnehin schon waren.

Dass eine Person, deren Position man geheimhalten wollte, nur mit dem Vornamen auftritt, auch im internen Schriftverkehr, gehörte zum konspirativen Regelwerk des Apparats der Kommunistischen Internationale. Der spanische Allerweltsname »Carmen« war eine besonders gute Tarnung für diese Frau, die perfekt Spanisch sprach. In den Akten der »Kommission für ausländische Kader« sowie denen der Zentralen Verwaltung der Internationalen Brigaden stößt man immer wieder auf ihren Namen. Sie schickte Empfehlungen und Einschätzungen zu einzelnen Personen an die Kaderabteilung der Brigaden, die sich vor allem auf die aus Deutschen, Österreichern, Schweizern, Niederländern und Skandinaviern bestehende sogenannte »deutsche Sprachengruppe« bezogen. Und sie erhielt Informationen von dieser Kaderabteilung sowie dem Abwehrdienst der Brigaden, der sich zunächst Servicio de Control, ab August 1937 Servicio de Investigación Militar (SIM) nannte, ein Name, der noch heute oft zu Verwechslungen führt, weil der Geheimdienst der Spanischen Republik genauso hieß.

Vermutungen und Spekulationen

»Carmens« aktivste Zeit in Spanien begann Anfang 1938, als sich die Kommission für ausländische Kader in »Militärpolitische Kommission« umbenannte. Hier wurde nicht nur über Beförderungen und Ernennungen entschieden, sondern auch über Fragen der politischen Kultur in den Internationalen Brigaden, deren Angehörige aus über fünfzig verschiedenen Ländern kamen. Aus diesem Grund gab es zunächst eine große Anzahl nationaler Parteiorganisationen innerhalb der Freiwilligenverbände. Das führte zu Differenzen und Problemen. Dem Grundsatz der Kommuni­stischen Internationale folgend, nach dem es in einem Land nur eine kommunistische Partei geben sollte, waren die kommunistischen Interbrigadisten angehalten, ihre Übernahme in die spanische KP zu beantragen. So wurden zum Beispiel über 80 Prozent der deutschen Interbrigadisten Mitglieder der spanischen Partei, die Ende der 1930er Jahre mehr als 280.000 Mitglieder zählte. Auch hier gingen die Anträge, die »Biografias de Militantes«, durch die Hände der »Genossin Carmen« und ihrer Mitarbeiterin »Maria«, deren Identität bis heute ebenfalls ungeklärt ist.

Als nach den schweren Auseinandersetzungen im Mai 1937 in Barcelona zwischen Kommu­nisten und Sozialisten auf der einen und Anarchisten und Angehörigen des linkskommunistischen Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) auf der anderen Seite der größte Teil des Exekutivkomitees des POUM verhaftet wurde (siehe jW-Thema vom 4. Mai 2017), befand sich unter den Festgenommenen auch Julián Gómez Garcia, der aus Verehrung für den berühmten russischen Schriftsteller Maxim Gorki den Namen »Julián Gorkin« angenommen hatte. Gorkin war Sekretär für Internationale Beziehungen der POUM und Chefredakteur des Parteiorgans Batalla. Im Gefängnis traf er auf einen wegen Spionage inhaftierten deutschen Freiwilligen, der in Gorkins Erinnerungen den Namen »Baunrück« trägt und der ihm gegenüber äußerte, sein Schicksal hänge von »Carmen« ab. Wahrscheinlich handelt es sich um den Kölner Interbrigadisten Eduard Baumrück, der wegen seines Alters als nicht mehr frontdienstfähig angesehen und deshalb dem Sanitätsdienst zugeteilt worden war. Da er im Hospitalzentrum Benicàssim nördlich von Valencia Küstenbefestigungen und andere Orte fotografiert hatte und die Aufnahmen an Verdächtige weitergegeben haben soll, war er zunächst zum Tode verurteilt worden, später wurde die Strafe in 30 Jahre Haft umgewandelt.

Gorkin merkt an, es sei nicht das erste Mal gewesen, dass er den Namen »Carmen« gehört habe. Walter Ulbricht habe in Spanien einen deutschen Zweig des sowjetischen ­NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) geschaffen, dem »Carmen« angehört habe. Sie sei ihm gegenüber als »Mannweib« beschrieben worden, gedrungen und hässlich, überall »trotzkistische Spione« witternd. Die Ulbricht-Geschichte gehört ebenso ins Reich der Legende wie Gorkins weitere Mutmaßungen, dass »Carmen« über Leben und Tod deutscher Interbrigadisten entschieden habe, dass mehrere Erschießungen auf ihr Konto gingen, ja dass sie an der heimtückischen Ermordung Hans Beimlers beteiligt gewesen sei. Beimler war am 1. Dezember 1936 während des Kampfes um Madrid bei der Besichtigung von Stellungen erschossen worden. Es gab immer wieder Gerüchte, sein Tod gehe auf den sowjetischen Geheimdienst zurück. Wie auch immer. »Carmen« konnte ihre Hand hier definitiv nicht im Spiel gehabt haben, denn sie hielt sich zu diesem Zeitpunkt nachweislich nicht in Spanien auf.

Der Historiker Patrik von zur Mühlen übernahm ohne Kenntnis der sowjetischen Archivbestände, teilweise die Argumentation Gorkins. »Carmen« habe die Verbindung zwischen dem ­NKWD und den verschiedenen spanischen Dienststellen hergestellt, ist in seinem Buch »Spanien war ihre Hoffnung. Die deutsche Linke im Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939« zu lesen. Er kolportierte auch das Gerücht, »Carmen« sei mit der KPDlerin und ­­NKWD-Agentin Gertrud Schildbach identisch, die den aus Verzweiflung über die Moskauer Prozesse abtrünnig gewordenen ehemaligen Angehörigen der sowjetischen Militäraufklärung Ignaz Reiss (Ignaz Poretski) am 7. September 1937 bei Lausanne in eine tödliche Falle gelockt hatte. Aber die Methode vor allem europäischer Historiker, konspiratives Agieren vorschnell mit den »Machenschaften« der GPU, der Nachfolgeorganisation der Tscheka, oder des ­NKWD in Verbindung zu bringen, erweist sich in diesem Fall als Sackgasse.

Kommunistisches Urgestein

Wer also war »Carmen«? In einer Akte der Militärpolitischen Kommission der KP Spaniens hat sich ein Adressenverzeichnis der Mitglieder erhalten. Der vollständige Name der »Genn. Carmen« wird dort mit Carmen Martínez Cartón angegeben. Martínez Cartón, das war Ende der 1930er Jahre in Spanien ein prominenter Name. Pedro Martínez Cartón war Mitglied des Politbüros der KP Spaniens und im Range eines Teniente-Coronel Kommandeur zunächst der 16. Brigada Mixta, dann der 64. Division der Spanischen Volksarmee. Verheiratet war er mit einer Deutschen, die, so lässt sich bei Fernando Claudín, dem Biographen des Generalsekretärs des sozialistischen Jugendverbandes und später auch der Kommunistischen Partei, Santiago Carrillo, nachlesen, niemand so recht mochte, unter anderem weil sie Carrillo mit »weiblich-preußischem Groll« überwacht haben soll. Die Abneigung sei so weit gegangen, schreibt Claudín, dass Carrillo nach der im April 1936 erfolgten Vereinigung der sozialistischen und der kommunistischen Jugendverbände im Juli in Paris mit Raymond Guyot über die »Angelegenheit Carmen« gesprochen habe.

Guyot war Vorsitzender der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI), die »Carmen« bereits 1934 mit dem Auftrag nach Spanien geschickt hatte, Carrillo bei einer möglichen Vereinigung beider Jugendorganisationen zu beraten. Da die KJI in den 1930er Jahren ohne Kenntnis des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) niemanden als »Beraterin« ins Ausland schicken konnte, findet sich ihr Name auch in den dortigen Akten. Und neben den vielen Decknamen, von denen »Carmen« nur einer war, steht dort auch ihr richtiger Name: Ruth Kahn.

Die am 25. September 1905 in Moers am Rhein als Tochter einer Bauernfamilie Geborene war früh in die Reihen der kommunistischen Bewegung eingetreten. Ihre Mutter verstarb am Tag ihrer Geburt, ihr Vater 1917. Aufgewachsen bei ihrer Großmutter, besuchte sie die Mittelschule und arbeitete nach einem abgebrochenen Hochschulstudium in der Gewerkschaft der Angestellten. 1919 trat sie der USPD bei, 1920 wurde sie Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands Deutschlands (­KJVD), 1923 Mitglied der KPD. Von 1923 bis 1928 war sie Mitglied des KJVD-Bezirkskomitees Niederrhein. Zu dieser Zeit lebte sie in Elberfeld und war dort für die kommunistische Kinderbewegung tätig. Offenbar war man mit ihrer Arbeit zufrieden. 1929 wurde sie in das ZK des KJVD berufen, wo sie wiederum für die Arbeit mit Kindern und besonders für die Jung-Spartakus-Pioniere verantwortlich war. Seit 1928 benutzte sie mit »Lotte Schmidt« auch erstmals einen Decknamen.

1930 wurde Kahn nach Moskau ins Exekutivkomitee der KJI delegiert, wo sie vom März 1931 bis Januar 1932 in der Abteilung Agitation und Propaganda tätig war. Ihre Berichte unterschrieb sie mit dem Decknamen »Antonio«. 1932 wurde sie nach Deutschland vor die Kontrollkommission der KPD geladen und beschuldigt, einer fraktionellen, »parteifeindlichen« Gruppe von »Versöhnlern« um Kurt Müller und Helmut Remmele anzugehören, die sich gegen den Parteivorsitzenden Ernst Thälmann gestellt hätten. Obwohl sie danach aus dem ZK des KJVD ausgeschlossen wurde, konnte Kahn später nach Moskau zurückkehren, wo sie zunächst wieder als Referentin im EKKI, dann im Romanischen Ländersekretariat im Bereich »Spanien« tätig war. In Moskau hatte sie in der Zwischenzeit Pedro Martínez Cartón kennengelernt, der im Auftrag der sozialistischen Gewerkschaft Unión General de Trabajadores (UGT) bei der Roten Gewerkschafts-Internationale tätig war. 1934 heirateten sie. Kahn erhielt die spanische Staatsbürgerschaft und damit eine perfekte Tarnung.

Die Spanische Republik rief Freiwillige aus aller Welt zum Kampf gegen Franco auf. Viele Spanienkämpfer traten der Kommunistischen Partei Spaniens bei. Die dem Zentralkomitee angegliederte ­»Kommission für ausländische Kader« wachte über deren Zuverlässigkeit, »Carmen« war eine ihrer Mitarbeiterinnen Foto: picture alliance/CPA Media

Die weiteren Angaben in ihrer Akte sind verworren. Vor ihrer Reise nach Spanien im Jahr 1934 sei sie von November 1933 bis April 1934 als Dozentin für Geschichte der KI und der Arbeiterbewegung an der Internationalen Lenin-Schule tätig gewesen. Zugleich, ist in der Akte zu lesen, sei sie Studentin an dieser Ausbildungsstätte der KI in Moskau gewesen.

1935 hielt Kahn sich in der Tschechoslowakischen Republik auf, deren Staatsbürgerschaft sie laut einem Pass, der auf den Namen »Maria Faust­lova« ausgestellt war, besaß. Tschechische Pässe waren bei der KI begehrt, weil sie die visafreie Einreise in zahlreiche Staaten ermöglichten. Gut möglich, dass der Aufenthalt in der ČSR eine Legende ist. In der KI-Akte wird er unter anderem mit einer »Schutzhaft« Kahns in Deutschland zwischen 1933 und 1934 begründet, die ebenfalls erfunden zu sein scheint; anschließend sei sie auf Beschluss der Partei in die ČSR emigriert.

Im Juli 1936 muss sich Kahn, deren abwertender Spitzname in Kreisen der spanischen Genossen »La Gorda« (»die Dicke«) lautete, noch auf der iberischen Haldinsel aufgehalten haben, denn am 19. Juli forderte Carrillo bei Raymond Guyot in Paris ihren Rückzug als »Beraterin«. Im gleichen Jahr gebar sie ihren Sohn André, der dann offenbar während ihres nächsten großen Auslandseinsatz im Auftrag der KI in der Sowjetunion verblieb.

Im Auftrag Moskaus

Der begann im Januar 1937. Abgesichert durch den geheimen »Verbindungsdienst« der KI reiste Kahn mit einem österreichischen Pass, der auf den Namen »Juga Stichhammer« ausgestellt war, nach Frankreich und von dort aus nach Spanien, wo sie zunächst zur Tarnung, offensichtlich aber schon mit dem Namen »Carmen Martínez Cartón«, als Mitarbeiterin einer Agentur in Barcelona arbeitete. Es ist davon auszugehen, dass das auch in Übereinstimmung mit der Residentur des ­NKWD in Spanien geschah. Jedenfalls war »Carmen« von dieser Zeit an in der Kaderabteilung des ZK der KP Spaniens tätig.

Die Spuren ihrer Tätigkeit, die sich in den Akten erhalten haben, zeugen von einem rigorosen, ganz auf der Linie der KI liegenden Handeln, wobei zu bedenken ist, dass die Moskauer Prozesse ihre Schatten auch auf Spanien warfen und der Spielraum gering war. Als 1937 der Vorwurf aufkam, der einflussreiche Verleger Willi Münzenberg, der schließlich 1939 aus der KPD austrat, sei »Trotzkist«, verschickte »Carmen« ein Rundschreiben an die Geheimdienste, in dem sie anmerkte, wie mit dem »Münzenberg-Kreis« in Spanien umzugehen sei. So gerieten zahlreiche deutsche Intellektuelle, die in der Vergangenheit in der ein oder anderen Form für die verschiedenen Münzenberg-Verlage gearbeitet hatten, unter Generalverdacht. Kahn listete ihre Namen fein säuberlich auf. Unmittelbare Konsequenzen hatte das für die meisten nicht. Aber der Verdacht lauerte fortan in den Akten.

Offenbar fungierte Kahn auch als Beschwerdestelle. So schrieben ihr Genossen, die meinten, ungerecht behandelt worden zu sein. Dabei scheint »Carmen« durchaus die Bedeutung eines Mitglieds des Politbüros der KP Spaniens zugekommen zu sein; anders lässt sich nicht erklären, dass etwa briefliche Beschwerden zugleich an sie wie auch an Mitglieder des obersten Parteiorgans gingen.

Mit dem Abzug der Internationalen Brigaden von den Fronten im September 1938 war auch ein weiterer Verbleib Ruth Kahns in Spanien überflüssig geworden. Wann und wie sie das Land verlassen hat, ist unklar. Da sie aber erst am 20. Mai 1939 wieder in der Sowjetunion eintraf, ist es wahrscheinlich, dass sie sich nach der Niederlage der Republik zunächst in Frankreich aufgehalten hat. Wohl kaum wird sie Spanien gemeinsam mit ihrem Mann verlassen haben. Der war im März 1939 bei den Auseinandersetzungen zwischen kommunistisch geführten Einheiten der Spanischen Volksarmee und solchen, die sich der von Sozialisten und Anarchisten unter der Führung von Segismundo Casado gebildeten »Verteidigungsjunta« angeschlossen hatten, gefangengenommen und nach Valencia gebracht worden. Dort konnte er in dem durch das Vorrücken der Franco-Truppen entstandenen Chaos nach Alicante fliehen und mit einem der letzten auslaufenden Schiffe Spanien in Richtung Algerien verlassen. Von Oran aus reiste er schließlich über Frankreich in die Sowjetunion. Am 20. Mai 1939 notierte der Generalsekretär der KI, Georgi Dimitroff, in seinem Tagebuch: »Heute eingetroffen – Pedro Checa, Jesús Hernández, (…) Martínez Cartón«. Da auch Ruth Kahn am 20. Mai in der Sowjetunion ankam, scheint es wahrscheinlich, dass sich beide in Frankreich getroffen haben, um von dort nach Moskau zu reisen.

Von der sowjetischen Hauptstadt aus begab Ruth Kahn sich zunächst nach Charkow, um dort ihren Sohn zu treffen. Aber schon im Juni wurde sie wieder nach Moskau beordert, von wo aus man sie, versehen mit einem kubanischen Pass auf den Namen »Carmen Lera«, gemeinsam mit ihrem Sohn nach Lateinamerika schickte. Ihr Auftrag ist unbekannt. Aber es ist anzunehmen, dass sie – mit einem kubanischen Pass war das unkompliziert – nach Mexiko reiste, wo sich der Sitz der spanischen republikanischen Exilregierung befand. Einige Zeit später kam auch ihr Mann mit einigen anderen Mitgliedern des Politbüros der KP Spaniens dorthin.

Differenzen und Austritt

Zwischen der spanischen Parteiführung in der UdSSR und denjenigen, die die Partei in Mexiko vertraten, kam es nach und nach zu schweren Differenzen. Letztere verließen bald die Partei und orientierten sich kurzzeitig an der Politik der KP Jugoslawiens. In der Folgezeit machten der schon in Moskau aus der Partei ausgeschlossene Enrique Castro Delgado und Jesús Hernández mit »Enthüllungsbüchern« über die Sowjetunion auf sich aufmerksam. Castro Delgado entwickelte sich gar zu einem so starken Antikommunisten, dass er 1963 wieder nach Franco-Spanien einreisen durfte. Martínez Cartón verließ ebenfalls die Partei. Er begann damit, Erzählungen für Kinder und Erwachsene zu schreiben. Seine Frau war schon 1943 aus der Partei ausgetreten. Er verstarb 1971, von ihr ist kein Sterbedatum bekannt. Ihre Akte in Moskau gibt auch keine Auskunft darüber, wie sie ihr Leben in Mexiko fortsetzte.

Einem Bericht der Zentralen Parteikontrollkommission der SED vom 25. April 1952 ist zu entnehmen, dass sich Ruth Kahn schon 1928 im ZK des KJVD als »Trotzkistin« gezeigt hätte. Der Bericht endet mit den Worten: »Nach 1939 emigrierte Ruth Kahn mit ihrem Mann nach Mexiko, wo beide zu offenen Feinden der Partei wurden.«

Der Autor bedankt sich bei Andreas Herbst von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und bei Harald Wittstock für Information und Rat.

Werner Abel schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. Mai 2017 über die sogenannten Mai­ereignisse 1937 in Barcelona.

Quellen: Komintern-Archiv im Staatsarchiv der Russischen Föderation für Sozialpolitische Geschichte, Akte RGASPI 495/ 205/ 2241-13 und RGASPI 545/6/ 7-8

Redaktion KFSR

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